Tektonik


Jetzt ist sie also auch offiziell an die Wand genagelt, meine Teamleitungsposition. Zusammen mit einem vielleicht nicht so selbst auferlegten Rollenbild, das sich ganz wunderbar daneben macht. Mein nun nicht mehr nur pharmaziebefreites Ich nutzt diesen Umstand gnadenlos aus und tut weder ach so geduldig oder sehr interessiert an Unfähigkeiten oder Anbiederungsversuchen, und es fühlt sich schlichtweg großartig an.

Probleme kann ab sofort bitte jede:r einfach behalten oder jemand anderem aka. unserem Chef ans Knie nageln, ich nehme nur noch die lösbaren, weil fachlichen Dinge an. Und bin fantastisch darin.

Wachstumsschmerz

Es mag am mentalen Ultramarathon der letzten Woche bis Monate liegen, dass sich heute multidimensionale Erschöpfung schwer und ausgesprochen unhöflich auf mich drauf legt. Immerhin führt sie dazu, dass ich einen Teil der scheinbar vor ebenso vielen Wochen bis Monaten verschluckte Kreativität auskotzen kann.
Das letzte halbe Jahr verschwimmt in meinem Gedanken, denn eigentlich ist viel zu viel passiert dafür, dass es nur 24 Wochen sein sollen, in dem Erinnerungen trügen oder gar nicht erst mehr vorhanden sind. Fertig wiedereingegliedert, wie ich nun seit gestern bin, starte ich Montag in meine altes neues Leben – ohne Teamleitung, sondern als Expertin auf meinem Gebiet. Diese Raumforderung, diese Wucherung von unerfüllbarer Verantwortung ist endlich nicht mehr Teil meines Arbeitens. Nur ich und mein Fachwissen, mit dem ich gerne anderen aushelfe, bei Rumheulerei aber künftig sagen kann, nicht meine Baustelle. Sowas von nicht.
Dankbarkeit und schiere Euphorie lassen mich nach dem Weihnachtsessen und der Mitteilung ans Team teils beseelt, teils zum Bersten angespannt nach Hause fahren. Den Fuß auf dem Gaspedal, die Gedanken bei Cravings und der Gewissheit, dass dort eine Tavor auf mich wartet, mit der ich mich statt meiner Gefühlsexpolsion beschäftigen kann.
Vielleicht darf ich da heute einfach mal ein bisschen im Arsch sein. Auch, wenns mir erschreckend oft fucking gut geht in letzter Zeit.

Zielbild

Am Rande des Abgrunds sind noch Plätze frei, also setze ich mich und baumle mit den Füßen im Dunkel. Nur noch ein Hauch trennt mich von einer Panikattacke, die wühlend und brüllend knapp an der Wahrnehmungsgrenze kratzt. Ich halte mir Augen und Ohren zu – seh ich dich nicht, siehst du mich nicht. Erstaunlicherweise funktioniert es, was kaum weniger beängstigend und nicht besonders zukunftsorientiert ist. Körper würde außerordentlich gerne einfach loslassen, sich überschwemmen und zermalmen lassen von dem, was dort droht, aber ich lasse ihn nicht – allein schon aus dem absoluten Unverständnis heraus, dass erst 2/3 des Weges geschafft sind und er sich schon anstellt, als wären wir am Ziel. So nicht, mein Lieber. Wir waren schon ganz woanders, also bilde dir nicht ein, jetzt schon einknicken zu dürfen.

Hintergrundrauschen

Rosa sitzt in der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hat, wippt langsam mit angezogenen Beinen, die sie mit ihren Armen umschlingt, vor und zurück und schaut mich mit ihren großen dunklen Augen ängstlich an.
Ich sitze auf dem Bett, schaue zu ihr und sehe doch nichts, weil ich die Tränen nicht stoppen kann, die mein Gesicht hinunter laufen und mein Shirt durchnässen.

Es ist nicht so, dass der Herr Vertretungseinzeltherapeut Rosa dorthin verwiesen hätte – dann wäre es einfach. Dann könnte ich die Arme ausbreiten, sie zu mir aufs Bett holen und wir könnten uns weiter aneinanderklammern. Aber so war es nicht – er bat sie in die Mitte des Raums. Mein Blick folgte ihr, doch er trug mir auf, dort hin zu schauen, wo sie noch kurz zuvor gestanden hatte.

Das ist der Moment, in dem ich zusammenbreche.

Ich glaube, das ist Therapie.

Schmerzgrenze

Rosa brüllt mich an. Laut. Schrill. Sie ist außer sich. Schier rasend.
Mit Abscheu und Ekel gestikuliert sie wild Richtung Körper, der aus purem Trotz nicht nur Unmengen Fett, sondern noch viel mehr Wasser einlagert, einem Marshmallow gleicht und sich wie ein riesiges speckiges Walroß anfühlt.
Ich kann ihr nur zustimmen. Und finde den Gedanken, ihn trotzdem weiter füttern zu müssen derart abstoßend, dass ich heulend und ratlos in Rosas Armen liege, die mir liebevoll übers Haar streicht und gleichzeitig weiter Vorwürfe mit einem Megaphon ins Ohr schreit.

Rosa packt meine Koffer. Teil für Teil wandert aus dem Schrank dort hinein, wo ich es sogleich wieder herausnehme und zurücklege. So drehen wir uns im Kreis und streiten dabei unentwegt über die Gründe, die für eine Abreise aus der Klinik sprechen – und welche dagegen. Rosas Argumente finde ich durchaus stichhaltig – Sport, Hungern und Dünnsein klingen nicht nur gut, sondern geradezu großartig. Aber die Rückkehr in das Leben, bei dem wir im November auf Pause gedrückt haben, erscheint mir derart absurd, dass ich lieber einen Pakt mit ihr schließe, statt ihr oder Körper vollends nachzugeben.
Sie darf brüllen, soll es sogar. So laut bitte, dass ich nicht über das Leben nachdenken muss, während ich den Käse zum Frühstück verweigere. Und sie brüllt.

Verdichtet

Es ist ruhig hier im Außen. Dafür ist es im Innen unglaublich laut und ungeordnet und schmerzhaft und diffus. Rosa ist seltsam unpersonifiziert. Agiert in der Tiefe, versteckt und im Dunkeln.
Die Intensität von einfach allem bringt mich fast um den Verstand. Die absolute Ehrlichkeit, mit der ich den Therapeuten und mir selbst begegne, ebenfalls.