Körper: Wie fertig muss ich denn bitte noch sein, damit wir was ändern dürfen?
Rosa: Ja.
Schlagwort: Bradykardie
Dystopie

Für den Fall, dass sich jemand fragt, wo ich bin. Hier. In meiner selbst gewählten Belanglosigkeit. Rosa Zombies haben mein Gehirn gefressen.
Matsch
Körper wäre gerne in Tränen aus- und insgesamt gerne zusammengebrochen, als am Donnerstag das Telefon klingelt und mir der kommende Dienstag als Aufnahmetermin mitgeteilt wird. Orange hält aber nichts davon, weil ich mich mitten in einer nur kurz auf Stumm geschaltenen Telefonkonferenz befinde und man da schließlich nicht zu heulen hat. Also heulen wir nicht und brechen auch nicht zusammen, sondern führen das unterbrochene Gespräch anschließend angemessen weiter, nur angereichert um ebenjene Information, so wie sich das für eine Führungskraft gehört.
Rosa begrüßt das ebenfalls sehr und legt seither eine kaum zu überbietende Ignoranz an den Tag. Sie sieht keinen Grund, Sport herunter- oder Nahrungsaufnahme hochzufahren und macht weiter, als gäbe es keinen Dienstag und keinen Boden der Tatsachen, auf dem nicht nur zu wenig, sondern garkein Glitzer liegt.
Schlafen wird seither überbewertet, weil diffuse Gedankenströme ununterbrechbar durch mich hindurch fließen, sobald ich die Augen schließe. Es fühlt sich an wie ein nahender Abschied von dem Körper, der so wunderschön ausgezehrt und zerbrechlich wirkt, wie ich mich im Innen fühle und dessen Schwäche und Erschöpfung als einzige Legitimation dient, nicht zu sehr über Leistungsgrenzen hinweg zu gehen.
Rosa flüstert derweil ohne Unterlass, dass sie mich sowieso nach drei Tagen wieder rausschmeißen, weil ich weder krank noch dünn genug bin und nur jemandem den Platz wegnehme, der ihn wirklich braucht. Sie ist also die Einzige, die sich trotz dieser Nachricht entspannt zeigt und Körper und mir vielleicht sogar zugesteht, am Montag nach der Arbeit nur Spazieren zu gehen, statt uns ein vorerst letztes Mal auf den CrossTrainer und vor die Gewichte zu stellen. Ist ja nur für drei Tage.
Halloween
Zum ungefähr drölfzigsten Mal frage ich mich, welcher Tag heute ist, weil die Antwort nicht in meinem Gehirn haften bleiben will. Samstag? Ja, doch. Samstag. Der ganz normal und mit wunderbarem Wetter beginnt, so dass unserer geplanten Fototour nichts im Wege steht. Kaffee und wachgammeln, dann geht’s los. Und noch auf Kilometer eins von insgesamt etwas über sechs – die auf ebener Strecke meine absolute Leistungsgrenze überschreiten darstellen – bin ich plötzlich von einer Ohnmacht nur noch einen Wimpernschlag entfernt. Körper zieht mich einige Schritte nach rechts und ist für kurze Zeit nicht ansprechbar. Doch bevor ich tatsächlich falle, gibt er mir die Kontrolle zurück.
Ich verstehe kaum, was hier gerade passiert ist. Kein Schwindel, kein Rauschen oder ein dunkler werdendes Gesichtsfeld, wie ich es – wirklich selten – vom zu schnellen Aufstehen und damit verbundenen Kreislaufschwierigkeiten kenne, sondern einfach ein ausschalten. Eine halbe Sekunde länger, und ich hätte im Gras gelegen. So aber hat Schatz fotografierenderdings nichts bemerkt, wofür ich dankbar bin, weil er sonst sicher durchdreht.
Der Rest der Tour verläuft erstaunlich unauffällig, auch wenn Körper irgendwann wieder einmal meine Arme abschaltet, aber das kenne ich ja schon. Der Rest des Tages hingegen fühlt sich seltsam an, ohne dass ich es in mehr als ein paar unzusammenhängende Worte fassen könnte. Verwirrt. Unkonzentriert. Irreal. Zäh. Erschöpft. Müde. Summend.
⦁
Ich stehe als Nächste auf der Liste der Klinik. Und wäre schon drin – wäre nicht Aufnahmestopp aufgrund der aktuellen Corona-Lage. Montag wird für die neue Woche entschieden.
Rosa hat auf diese Nachricht hin die tägliche Kalorienzufuhr nochmal eingekürzt, weil die Vorstellung, mit etwas anderem als dem niedrigstmöglichen Gewicht dort anzukommen, absurd scheint. Körper arbeitet dagegen und zieht – schon vorher, also seit zwei oder drei Wochen – Wasser, weil es das einzige ist, von dem er im Überfluss bekommt und sich überhaupt Reserven anlegen lassen. Die Zahl auf der Waage haut mir das jeden Morgen um die Ohren, und ich wäre wirklich neugierig, wie es ohne aussähe. Wenig wird wohl die Antwort sein, wenn ich meine rutschende Sporthosen und den Zwischenfall gestern betrachte.
Inpatient ⦁ Körperintelligenz
Dienstag. Wiegetermin beim Hausarzt, es ist sein letzter Tag vor dem Urlaub. Ich habe extra meine Eigenverantwortung, die seit Ewigkeiten in einer Ecke liegt und vor sich hin gammelt, abgestaubt und eingepackt, um sie ihm vor die Füße zu werfen. Ich will sie nicht, soll er damit machen, was er will.
Denn irgendwas ist passiert in den letzten Tagen, insbesondere nach unserem Ausflug. Es geht nicht mehr. Ich funktioniere nicht mehr und fühle mich physisch wie psychisch am Ende.
Doch ich werde nur auf die Waage gestellt, die einen Hauch mehr anzeigt als am Freitag – an dem ich nüchtern war, während ich jetzt schon diverse Tassen Tee und Kaffee intus habe und das auch sage; genau wie dass meine Waage daheim einen Hauch weniger zeigt als am Freitag – und mit einem neuen Wiegetermin in 14 Tagen nach Hause geschickt. Ohne Arztgespräch.
Immernoch Dienstag. Fünf Minuten, bevor der Vertretungsarzt schließt. Ich rufe dort an und soll kurz angeben, worum es geht. Ich stammle etwas von Untergewicht und Einweisung ins Telefon und erhalte einen Termin für Donnerstagmittag. Das ist der Moment, in dem Rosa erkennt, dass ich es ernst meinen könnte. Aber noch bevor sie den Mund aufmachen kann, sage ich ihr, dass sie die Klappe halten soll, und erstaunlicherweise hält sie sich daran. Was mich fast noch mehr verunsichert.
Donnerstag. Natürlich überlege ich, den Termin abzusagen. Weil ich bestimmt nicht krank genug bin, nur überreagiere und mir die weiteren Androhungen zur totalen Systemabschaltung von Körper bloß einbilde. Aber ich gehe trotzdem hin und habe wieder meine Eigenverantwortung eingepackt. Diesmal werde ich sie los. Er gibt mir die Zusage für eine akute Einweisung in eine psychosomatische Klinik, kümmert sich um einen Platz, nimmt heute nochmal diverse Werte ab und dann… Ja, dann geht es hoffentlich (?) sehr kurzfristig stationär. Und das ist die Stelle, an der ich fast sowas wie froh bin über meine kognitiven Nicht-Funktionen, weil Nicht-Denken an der Stelle bedeutend weniger Angst macht. Und Rosa? Schweigt sich aus, gerade.
Konsumopfer
Rosa steht nackt, beinahe selbstzufrieden und mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor dem Spiegel und betrachtet mich. Die Waage zeigte heutefrüh, passend zum anstehenden Arzttermin zwecks Blutwertbesprechung, den niedrigsten Wert ever an, da ändert auch die dank nagelneuer Fitnessuhr getrackte erschreckend niedrige Pulsfrequenz der letzten Nächte nichts an Rosas Euphorie.
Später sitzen wir gemeinsam beim Doc, und mit B12 und D sind bloß die üblichen Verdächtigen nicht so, wie sie sein sollten. Auch gut.
Als ich frage, ab wann ein niedriger Puls gefährlich werden kann, beruhigt er mich zunächst, weil er es bei dem vielen Sport für einigermaßen normal hält, zumal ich kaum Kreislaufprobleme habe. Aber dann scheint ihm wieder einzufallen, dass Körper ganz schön dünn ist und er fragt nach meinem Gewicht. Rosa antwortet mit stolz geschwellter Brust und während ich mich frage, warum sie tatsächlich die Wahrheit sagt, stellt mich der Doc mit steigender Nervosität auf die Waage. Das Ergebnis scheint ihm nicht zu gefallen, und wieder einmal fragt er nach therapeutischer Unterstützung und wirft einen Klinkkaufenthalt in den Raum. Ich glaube, er ist so genervt wie ratlos, weil er denkt, dass ich doch wollen sollte – und ich will ja auch wollen, aber genau genommen will ich halt sowas von nicht.
Nächste Woche, vor seinem Urlaub, soll ich mich noch einmal bei ihm auf die Waage stellen. Da sollte es mindestens stabil sein, sagt er. Und dann, mehr zu sich selbst denn was wären sonst die Konsequenzen? Er ist sich wohl selbst nicht so recht im Klaren darüber, denn er lässt die Frage unbeantwortet im Raum stehen. Rosa packt sie heimlich in ihre Tasche, weil sie es zwar nicht zugeben würde, aber Konsequenzen irgendwie verlockend klingen. Auch, wenn ich zumindest ab und zu versuche, sie davon zu überzeugen, dass der Verlust von jeglicher Autonomie weitaus weniger sexy ist, als sie es sich vorstellt.
Jetzt verbringen wir den Nachmittag also mit nicht enden wollenden Diskussionen darüber, ob wir den Vormittag vorm Arzttermin damit zubringen, literweise Wasser zu trinken, das Wochenende noch mal besonders restriktiv sind oder einfach nicht hingehen.
Am Ende ist es mir aber auch ziemlich egal, stelle ich fest. Und auch, wenn noch hundert weitere Gedanken zum Thema in der Peripherie meines Kopfs schweben, die zwar gedacht werden sollten, aber nicht können oder oder wollen, ist die einzig übrigbleibende Fragestellung die, wie ich Schatz den Termin, den ich natürlich wahrnehmen werde, verkaufe – und die Konsequenzen.